Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können vorläufige Risikomanagementmaßnahmen nach Art. 7 der Verordnung Nr. 178/2002 erst ergriffen werden, wenn die Auswertung der verfügbaren Informationen im Sinne des Art. 6 dieser Verordnung erfolgt ist und zu der Feststellung geführt hat, dass hinsichtlich möglicher gesundheitsschädlicher Auswirkungen eines Lebensmittels oder eines in einem Lebensmittel enthaltenen Stoffes wissenschaftlich Unsicherheit besteht.

Insoweit erfordert eine korrekte Anwendung des Vorsorgeprinzips erstens die Bestimmung der möglicherweise negativen Auswirkungen der betreffenden Stoffe oder Lebensmittel auf die Gesundheit und zweitens eine umfassende Bewertung des Gesundheitsrisikos auf der Grundlage der zuverlässigsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. September 2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a., C 236/01, EU:C:2003:431, Rn. 113, sowie vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich, C 333/08, EU:C:2010:44, Rn. 92).

Wenn es sich als unmöglich erweist, das Bestehen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unzureichend, nicht schlüssig oder ungenau sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die Gesundheit der Bevölkerung jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintritt, rechtfertigt daher das Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen, sofern sie objektiv und nicht diskriminierend sind (Urteil vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich, C 333/08, EU:C:2010:44, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Demzufolge ist ein Mitgliedstaat nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 178/2002 grundsätzlich berechtigt, eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erlassen, nach der, sofern keine Ausnahmegenehmigung erteilt wird, die Verwendung von Aminosäuren in Lebensmitteln generell verboten ist, wenn diese Regelung, bei der es sich im Kern um ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt handelt, insbesondere auf den Grundsatz der Risikoanalyse des Art. 6 der Verordnung und auf das Vorsorgeprinzip ihres Art. 7, wie sie in den Rn. 51 bis 57 des vorliegenden Urteils erläutert werden, gestützt ist.

Ferner müssen gemäß Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 nach dessen Abs. 1 getroffene Maßnahmen verhältnismäßig sein und dürfen den Handel nicht stärker beeinträchtigen, als dies zur Erreichung des in der Gemeinschaft gewählten hohen Gesundheitsschutzniveaus unter Berücksichtigung der technischen und wirtschaftlichen Durchführbarkeit und anderer angesichts des betreffenden Sachverhalts für berücksichtigenswert gehaltener Faktoren notwendig ist. Zudem müssen diese Maßnahmen

innerhalb einer angemessenen Frist überprüft werden, die von der Art des festgestellten Risikos für Leben oder Gesundheit und der Art der wissenschaftlichen Informationen abhängig ist, die zur Klärung der wissenschaftlichen Unsicherheit und für eine umfassendere Risikobewertung notwendig sind.

Eine solche Unsicherheit, die vom Begriff der Vorsorge nicht zu trennen ist, wirkt sich auf den Umfang des Ermessens des Mitgliedstaats und damit auch auf die Art und Weise der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Unter solchen Umständen ist einem Mitgliedstaat zuzugestehen, dass er nach dem Vorsorgeprinzip Schutzmaßnahmen trifft, ohne abwarten zu müssen, dass das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren klar dargetan sind. Allerdings darf die Risikobewertung nicht auf rein hypothetische Erwägungen gestützt werden (Urteil vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich, C 333/08, EU:C:2010:44, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall übermittelt das vorlegende Gericht keine hinreichenden Informationen, anhand deren festgestellt werden könnte, ob das aminosäurehaltige Lebensmittel betreffende Verbot des LFGB auf die sich aus den Art. 6 und 7 der Verordnung Nr. 178/2002 ergebenden allgemeinen Grundsätze des Lebensmittelrechts gestützt wurde. Jedoch führt die deutsche Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen aus, dass mit den nationalen Rechtsvorschriften für Aminosäuren in § 6 Abs. 1 LFGB in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 LFGB der vom Zusatz von Aminosäuren zu Lebensmitteln ausgehenden Gesundheitsgefahr effektiv begegnet werden solle. Die Anreicherung von Lebensmitteln mit Aminosäuren berge gesundheitliche Risiken, doch die aktuelle wissenschaftliche Erkenntnislage sei unvollständig und erlaube bislang noch keine abschließende Bewertung dieser Risiken.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeit der im LFGB getroffenen Regelung mit der Verordnung Nr. 178/2002 vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. Im Rahmen dieser Prüfung muss das vorlegende Gericht sich erstens davon überzeugen, dass die Bewertung der mit der Verwendung von Aminosäuren in Nahrungsergänzungsmitteln verbundenen Risiken so durchgeführt wurde, dass sie die in den Rn. 53 und 56 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt und nicht auf rein hypothetische Erwägungen gestützt ist.

Zweitens ist das Ermessen der Mitgliedstaaten betreffend den Umfang, in dem sie den Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten wollen, von besonderer Bedeutung, wenn nachgewiesen wird, dass beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung Unsicherheiten hinsichtlich der gesundheitsschädlichen Wirkung bestimmter Stoffe bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2010, Solgar Vitamin’s France u. a., C 446/08, EU:C:2010:233, Rn. 35 und 36). Folglich stellt, wie der Generalanwalt in Nr. 96 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Tatsache, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die nationale Behörde über ein weites Ermessen verfügen kann, an sich im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der Verordnung Nr. 178/2002 kein Problem dar.

Drittens betrifft die Regelung des LFGB, wie aus § 6 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 und § 4 Abs. 1 Nr. 2 LFGB hervorgeht, unterschiedslos alle Aminosäuren und deren Derivate, ohne nach etwaigen Stoffgruppen oder -arten zu unterscheiden. Auch wenn eine solche allgemeine Verbotsregelung nicht allein aus diesem Grund mit der Verordnung Nr. 178/2002 unvereinbar ist, so muss aus der von den zuständigen nationalen Behörden nach Art. 6 dieser Verordnung durchzuführenden Risikoanalyse doch klar hervorgehen, für welche den betreffenden Stoffen gemeinsamen Merkmale oder Eigenschaften eine tatsächliche Gefahr für die menschliche Gesundheit nicht ausgeschlossen werden kann.

Im vorliegenden Fall scheinen – in Anbetracht der von der deutschen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen gemachten Angaben und vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden notwendigen Prüfung – die Risikoanalyse und die Anwendung des sich daraus ergebenden Vorsorgeprinzips nur bestimmte Aminosäuren zu betreffen. Dies wäre zur Rechtfertigung eines unterschiedslos für alle Aminosäuren geltenden Verbots mit Erlaubnisvorbehalt, wie es das LFGB vorsieht, unzureichend.

Im Hinblick auf diese Prüfung ist darauf hinzuweisen, dass gemäß der in Rn. 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die praktischen Schwierigkeiten, eine umfassende Bewertung der von aminosäurehaltigen Lebensmitteln ausgehenden Gesundheitsgefahr vorzunehmen, es nicht zu rechtfertigen vermögen, dass vor dem Erlass eines systematischen und nicht zielgerichteten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt eine solche umfassende Bewertung nicht vorgenommen wurde (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Januar 2010, Kommission/Frankreich, C 333/08, EU:C:2010:44, Rn. 103).

Viertens ist nach § 68 Abs. 5 LFGB die Zulassung einer Ausnahme vom Verbot des § 6 LFGB auf längstens drei Jahre zu befristen; sie kann nur dreimal um jeweils längstens drei Jahre verlängert werden. Hierzu ist festzustellen, dass § 68 Abs. 5 LFGB, indem er für die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen diese zeitlichen Beschränkungen selbst dann vorsieht, wenn die Unbedenklichkeit eines Stoffes nachgewiesen wird, eine Maßnahme darstellt, die in keinem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem LFGB verfolgten Zweck steht, den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu erreichen.

Nach alledem sind die Art. 6 und 7 der Verordnung Nr. 178/2002 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die das Herstellen oder Behandeln bzw. das Inverkehrbringen eines Nahrungsergänzungsmittels mit Aminosäuren verbietet, sofern nicht hierfür eine im Ermessen der nationalen Behörde liegende Ausnahmegenehmigung erteilt wird, entgegenstehen, wenn diese Rechtsvorschrift auf eine Risikoanalyse gestützt ist, die nur bestimmte Aminosäuren betrifft, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. In jedem Fall sind diese beiden Artikel dahin auszulegen, dass sie einer solchen nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, wenn diese vorsieht, dass die Ausnahmen von dem Verbot nach dieser Vorschrift selbst dann nur befristet zugelassen werden können, wenn die Unbedenklichkeit eines Stoffes nachgewiesen ist. (EuGH vom 19.01.2017, C-282/15 Queiser Pharma GmbH und Co KG gegen BRD)